
Die Marke & das Gehirn – warum Marketinginstrumente wie Storytelling einfach funktionieren
24. März 2020 Der Homo Oeconomicus hat es nicht geschafft. Das wirtschaftstheoretische Modell, das von einem völlig rational denkenden Menschen ausgegangen ist, war lange prägend – wurde aber schlussendlich verworfen.Denn während es sich dank seiner Nachvollziehbarkeit wunderbar für Modellrechnungen und analytische Methoden eignete, konnte es eine Reihe menschlicher Entscheidungsfindungen nicht erklären.
Alltägliche Dinge, wie die morgendliche Schlange vor Starbucks oder jene vor den Apple Stores, wenn es endlich mit dem neuesten iPhone soweit ist, passen so gar nicht zu diesem rationalen Menschenbild. Das erwartete, stets ökonomisch sinnvolle Verhalten blieb auf der Strecke – der rationale Teil des Gehirns wurde überlistet.
Jede/r von uns kann an Zeiten denken, in denen wir bewusst unseren Neokortex (dazu später mehr) ignoriert haben. Während manche disziplinierter sind und sich doch öfters von ihm beraten lassen, kommt er bei anderen kaum zum Wort.
Warum eigentlich?
Interessant zu verstehen ist – für uns als MarketerInnen sowieso, aber auch für uns als KonsumentInnen – warum zum Zeitpunkt des Kaufs unsere Wahl auf diese eine bestimmte Marke fällt. Warum gerade Ben&Jerry und nicht Haagen Dasz? Ist es wirklich der Geschmack, der Preis, die Verpackung? Nachträglich können wir einige Gründe aufzählen, die uns unser Gehirn in einem Rationalisierungsprozess liefert. Aber Fakt ist – wirklich auffallend oft greifen wir automatisch zu „unserer“ Marke.
Brand Salience
Schuld daran ist die sogennante Brand Salience (auf Deutsch: Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit, Wiedererkennbarkeit oder eben die Kombination aus all diesen Faktoren). Brand Salience ist der Grad, zu dem die Marke wahrgenommen wird oder daran gedacht wird, wenn sich KundInnen in einer Kaufsituation befinden. Starke, bekannte Marken haben eine hohe Brand Salience und kleinere (oder neue) Marken haben eben wenig oder gar keine. Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad, warum große Marken groß und kleine Marken klein sind: Wenn in der Kaufsituation (bzw. bei der Entscheidungsfindung) die Marke weder emotional noch kognitiv präsent ist, dann existiert sie nicht. Das erinnert an „top of mind awareness“, es ist aber nicht ganz dasselbe. In der „Top of Mind Awareness“ befinden sich jene Marken, an die wir denken, wenn wir danach gefragt werden. Bei Brand Salience handelt es sich um jene Marken, zu denen wir in einer Kaufsituation tatsächlich greifen. Neben der Markenbekanntheit und -präferenz spielen hier Verknüpfungen in wichtigen Gedächtnisstrukturen eine Rolle.
Neuromarketing
Um uns diese Gedächtnisstrukturen näher anzuschauen, wenden wir uns dem Neuromarketing zu. In diesem Bereich gehen WissenschaftlerInnen davon aus, dass (Kauf-)Entscheidungen in den älteren Teilen des Gehirns getroffen werden.
Laut Professor Uma R. Karmarkar von der Harvard Business School:
„Menschen können ziemlich gut ausdrücken, was sie wollen, was sie mögen oder wie viel sie für einen Artikel bezahlen würden. Sie sind jedoch nicht immer in der Lage festzustellen, woher diese Werte stammen oder wie, wann und von welchen Faktoren sie beeinflusst worden sind. Neuromarketing kann helfen, diese verborgenen Elemente des Entscheidungsprozesses zu verstehen. “
Um selbst entscheiden zu können, ob Neuromarketing eine für die eigene Branding- und Marketing-Strategie relevante Disziplin ist, müssen wir die Basics kennen.
Die Triune Brain Theorie
Das Konzept des „dreieinigen“ Gehirns stammt vom US-amerikanischen Neurowissenschaftler Paul MacLean. Es erklärt evolutionäre Abläufe, die die Funktionen und Strukturen unseres Gehirns beeinflussen. Das Gehirn ist nach diesem Modell in drei separate Bereiche aufgeteilt. Sie interagieren zwar miteinander, haben aber jeweils ein eigenes Bewusstsein und spezifische Ausdrucksweisen, Bedürfnisse, Erinnerungen und Wahrnehmungen.
Diese drei Bereiche sind das Reptilienhirn, das Limbische System (oder das Säuger-Gehirn) und der Neokortex.
Das ReptilienhirnDas Reptilienhirn (oder der Hirnstamm) ist der älteste und tiefliegendste Teil des menschlichen Gehirns. Es ist bereits vor ca. 500 Millionen Jahren im Laufe der Evolution entstanden. Von hier aus werden alle lebenswichtigen Kernfunktionen wie Herzfrequenz und Atmung gesteuert. Hier ist auch unser Überlebensinstinkt zuhause – die Fähigkeit, direkt auf Reize zu reagieren, die Kampf-oder Fluchtreaktion (fight-or-flight response). Unsere Vorfahren (ergo auch wir) haben diesem Hirnbereich unser Überleben zu verdanken, weil von hier Impulse und Instinkte ausgelöst werden.
Das Reptilienhirn im MarketingVielleicht nicht ihr gesamtes Überleben, aber zumindest ihre Weiterentwicklung hat auch die Kasse in Lebensmittelgeschäften unseren Impulsen zu verdanken, Stichwort: Impulskauf. E-Commerce-Händler setzen dies auch online um – z.B. mit dem Countdown, der anzeigt, wie viele Minuten der gewünschte Artikel für uns in unserem virtuellen Warenkorb noch reserviert ist. Obwohl es sich hierbei in den seltensten Fällen um überlebenswichtige Artikel handelt, erzeugt es ein unangenehm bedrohliches Gefühl der Knappheit. Dies ist der Grund, warum Hotel Booking – Seiten uns mitteilen, wie viele andere Interessenten sich in dieser Sekunde genau dasselbe Zimmer anschauen. Ressourcenknappheit war für unsere Vorfahren ein sehr ernstes Thema. (Übrigens… wir heute – bzw. am besten gestern schon – müssen uns auch schleunigst Gedanken über Ressourcenknappheit machen… aber das ist ein anderes Thema) Daher sind wir konditioniert, darauf zu reagieren. Wir sollten den Artikel kaufen, bevor er nicht mehr erhältlich ist (Knappheit) und bevor ihn uns jemand anderer wegschnappt (Konkurrenz). All diese Taktiken, die Dringlichkeit fördern, sprechen unser Reptilienhirn an. Auch Social Proof Marketing basiert auf evolutionspsychologischen Entwicklungen. Mehr dazu findet ihr hier.
Das limbische SystemDas limbische System schließt oberhalb des Hirnstamms an. Dieser Teil des Gehirns entstand in der Phase der Entwicklung der Säugetiere – darum wird es auch Säugerhirn genannt. Hier werden die für unsere soziale Natur typischen Empfindungen wie Sorge, Angst, Liebe, Lust, Spieltrieb und das Lernen durch Nachahmen reguliert.
Anatomisch betrachtet, umfasst dieser Teil den Hippocampus, die Amygdala und den Hypothalamus. Funktionstechnisch gesehen, ist das limbische System das Zuhause unserer Emotionen. Würden die Charaktere aus dem Film “Inside Out (Alles steht Kopf)” wirklich in unseren Köpfen leben, wäre hier ihr Hauptquartier.
Gefühle, Erinnerungen, Werturteile, Vertrauen, Loyalität, Hoffnungen und Träume – all das (was uns ausmacht) wird im limbischen System durch einen Fluss von chemischen Reaktionen erzeugt und reguliert. Der Dopamin-Schuss, den wir erhalten, wenn wir einen Haufen an Likes, Kommentaren und Shares auf unser letztes Posting bekommen – das passiert auch hier.
Das limbische System und StorytellingStorytelling wird sehr treffend als „gehirngerechte Kommunikation“ definiert. Diese gehirngerechte Kommunikation spricht nämlich hauptsächlich unser limbisches System an.
Positive Themen wie Freundschaft, Frieden und Natur stimulieren in der Regel eine Ausschüttung von Glückshormonen wie Dopamin und Serotonin. Liebe ist auch nicht viel mehr als Biochemie – das Phänomen Bindung verdanken wir hauptsächlich dem Oxytocin. „Die Loyalität unserer KundInnen sinkt aufgrund sinkender Oxytocin-Ausschüttungen“ wäre eine Aussage, die neurobiologisch gesehen nachvollziehbar, marketingtechnisch allerdings nicht vertretbar ist. Schade eigentlich…
Themen, die uns Angst machen hingegen, stimulieren in der Regel eher die Ausschüttung von Adrenalin. Die Freisetzung dieses Stresshormons hat eine aufputschende, leistungssteigernde Wirkung – unser Blutdruck und unsere Herzfrequenz werden erhöht. Daher sind unter anderem auch Konfliktthemen im Storytelling ein essentieller Teil. Sei es ein innerer, ein zwischenmenschlicher oder ein kosmischer Konflikt – unser Gehirn ist vorprogrammiert, darauf zu reagieren. Auch wenn sich die Reaktion hier auf die reine Wahrnehmung beschränkt – wahrgenommen werden ist im Marketing fast die halbe Miete.
CGCNach dieser Abkürzung sind neben dem Konflikt (in diesem Fall das zweite C) „Charakter“ und „Genre“, die zwei weiteren Komponenten, die Storytelling ausmachen.
Unter Storytelling soll man sich nämlich nicht nur einfach eine Geschichte vorstellen, die klassisch einen Anfang, einen Aufbau und eine Auflösung hat. Ein wichtiger Teil von Storytelling ist auch der Charakter der Marke – „Wäre die Marke ein Mensch, wie würde sie sein? Welche Geschichte würde sie erzählen?“
Sehr praktisch zur Beantwortung dieser Fragen ist die Limbic Map. Nomen est omen – die Limbic Map liefert einen strukturierten Überblick über den menschlichen Emotionsraum. Oder aber stellt eben unser limbisches System aus einem etwas anderen Blickwinkel dar.
Was die Genres betrifftEin gewisser Christopher Booker hat im Jahr 2004 netterweise einige weltbekannten Geschichten und Erzählungen analysiert, und daraus auf 734 knackigen Seiten sieben „Basic Plots“ herausgearbeitet:
- Das Besiegen des Monsters
- Vom Tellerwäscher zum Millionär
- Die Suche
- Die Reise und Rückkehr
- Die Komödie
- Die Tragödie
- Die Wiedergeburt
Seine Analyse basiert auf den Jung‘schen Persönlichkeitstypen bzw. Archetypen. Ähnlich wie die Limbic Map eignen sich diese Archetypen auch bestens für die Entwicklung einer Markenpersönlichkeit. Oder für das Kreieren der perfekten Buyer Personas.
Der NeokortexDas limbische System ist zwar hoch emotional, kann sich aber nicht artikulieren. Wenn wir also eine emotionale Entscheidung nachträglich begründen („na ja, eigentlich war es eh das Richtige, weil …“ ), geschieht dies in unserem Neokortex. Sprich, unsere (Kauf-)Entscheidungen werden ganz woanders gerechtfertigt, als sie getroffen werden. Aus Sicht des Marketings ein sehr wichtiger Punkt.
Der Neokortex ist als letzter entstanden. Hier werden komplexere Gehirnfunktionen exekutiert wie Kognition, Sinneswahrnehmung, Sprache, abstraktes Denken, Vorstellungskraft und Bewusstsein. Dazu gehören Logik, Vernunft, Wissenschaft, Kunst, Musik und Kreativität. Der Neokortex ist in zwei Hemisphären unterteilt:
- Linke Gehirnhälfte: analytisch, logisch
- Rechte Gehirnhälfte: kreativ, intuitiv
Der Neocortex verwendet greifbare Faktoren und Sprache, um zu rationalisieren, was wir in den anderen Teilen des Gehirns nicht rationalisieren können. Er braucht also Gründe, um nachvollziehen zu können, warum das limbische System sich für Marke A statt für Marke B entschieden hat – obwohl sie womöglich die logischere Wahl gewesen wäre. Und genau diese Gründe soll ihm das Marketing geben. Zahlen, Daten, Fakten, Statistiken, Empfehlungen, Auszeichnungen sind genau aus diesem Grund wichtig. Nachdem wir (als MarketerInnen) es geschafft haben, unsere Marke mit den gewünschten Emotionen aufzuladen und zwar so überzeugend, dass es zum Kauf gekommen ist, dürfen wir nicht auf den Neokortex vergessen. Ob die Versorgung mit handfesten Informationen tatsächlich nach dem Kauf (z.B. via Newsletter) oder auch bereits davor stattfindet, bleibt der jeweiligen Strategie überlassen. Wenn das nicht passiert – wenn es der Neokortex trotz Bemühungen nicht schafft, die Entscheidung zu begründen – kann es zu einer kognitiven Dissonanz kommen. Das ist (oberflächlich gesagt) das unangenehme Gefühl einer Disbalance zwischen dem, was wir tun und dem, was wir wissen. Der Marketing-Job ist es also, dieses Gefühl zu minimieren. Denn unangenehme Gefühlzustände führen selten zu Wiederkäufen.
Fazit
s gibt viele Definitionen für den Begriff „Marke“. Eine (unserer Meinung nach) sehr treffende und praxisnahe Definition ist „die einzigartige Geschichte, an die sich Menschen erinnern, wenn sie an das Unternehmen denken.“ Das Wort “Menschen” an dieser Stelle passt viel besser als KundInnen, RezipientInnen, KonsumentInnen, UserInnen, usw. Denn genau auf dem Menschlichen basieren Markenbeziehungen – auf den angeborenen Impulsen und Instinkten, auf den Gefühlen und Emotionen und nicht zuletzt auf den Gedanken und Rationalisierungen.
Autorin: Vivian Scherz